Editorial

Dogmatismus und Realität

Liebe Leserinnen und Leser,

als ich kürzlich in einem Unternehmen der Autozulieferbranche mit der Geschäftsführung zusammentraf, berichtete der HR-Chef, dass das Unternehmen bis 2030 zwölf neue Produktlinien marktreif entwickeln wolle mit dem Ziel, sie dann vor Ort zu produzieren. Das freilich sei an die Voraussetzung geknüpft, bis 2026 weitere 150 hochqualifizierte Produktingenieure einstellen zu können, zusätzlich zu den 80, die bis dahin altersbedingt ausscheiden würden. Gelänge dies nicht, würden Investitionsbudgets, F+E und Produktion an andere Standorte im Konzernverbund gehen. Diese betriebswirtschaftlichen Essentials erschließen sich jeder und jedem in unserer Branche, das ist gelebte Realität. Fachkräfte, Kapital, konkurrenzfähige Produktionsbedingungen als Voraussetzungen dafür, dass Wertschöpfung überhaupt entstehen kann.

Aber jeder von uns, der es gewohnt ist, die Realisierbarkeit von Plänen zur Maßgabe unternehmerischer Entscheidungen zu machen, dürfte Schwierigkeiten haben, den nicht enden wollenden „Stock­fehlern“ (wohlwollend formuliert) der Berliner Politik noch Verständnis entgegenzubringen. Nicht Wenige fragen sich, ob es gar Versagen mit System sei, was in der Regel dann der Fall ist, wenn Ideologien domi­nieren und der Dogmatismus im steten Konflikt mit den Grundrechen­arten steht, mit der Ökonomie, mit den Knappheitsbedingungen des Arbeitsmarktes, mit dem, was politisch möglich und verantwortbar ist, kurzum mit der Realität.

Politik ist das Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich, heißt es bei Max Weber. Man mag der Energie- und Klimaschutzpolitik in Berlin mangelnde Leidenschaft nicht absprechen, am Augenmaß aber fehlt es. Geradezu weltmeisterlich ist das, was Wirtschaft und Gesellschaft an Zielen vorgegeben wird: Binnen weniger Jahre die komplette Energiewende, die Wärmewende, die Verkehrswende. Wie das alles ökonomisch gestemmt werden soll, ist die eine Frage. Autozulieferer, denen die Umsätze aus Verbrennerfahrzeugen auch als Folge immer neuer Vorgaben aus Brüssel und Berlin wegbrechen, können nicht gleichzeitig im großen Stil in Dekarbonisierung, Digitalisierung und neue Antriebstechnologien investieren. Ergo wird es zu Produktionsschließungen und -verlagerungen an günstigere Standorte kommen und dies im großen Stil.

Die weitere Frage aber lautet: Woher sollen die für den Umbau notwendigen Fachkräfte überhaupt kommen? Schon heute fehlen in Deutschland über 300.000 Fachkräfte im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Gleichwohl soll die Zahl der Windräder bis 2030 wenigstens verdoppelt werden, Millionen zusätzlicher Solaranlagen installiert werden, große Teile des Stromnetzes neu gebaut werden, ebenso wie eine Wasserstoffpipeline, die durch das gesamte Bundesgebiet führt. Des Weiteren jährlich 400.000 neue Wohnungen. Sechs Millionen Wärmepumpen will man bis 2030 installiert haben. Allein dafür braucht es jährlich 60.000 Techniker zusätzlich, aber schon heute können in der Branche 70.000 offene Stellen nicht besetzt werden. Unerwähnt bleiben hier Lieferengpässe durch fehlende Vormaterialien und die nicht gänzlich unbedeutende Frage, wie ein durch Millionen zusätzlicher Wärmepumpen und 15 Millionen Elektroautos bis 2030 (so das amtliche Ziel) massiv steigender Stromverbrauch gedeckt werden soll. Zur Erinnerung: Mit den letzten sechs abgeschalteten Kernkraftwerken hätte man den Stromverbrauch für die Hälfte aller Privathaushalte in Deutschland sicherstellen können. Stattdessen wird die Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke im April dieses Jahres vom Bundeswirtschaftsminister als unwiderruflich bejubelt und im gleichen Atemzug angekündigt, dass die Verstromung aus heimischer Kohle nach Möglichkeit schon 2030 beendet werden soll.

Selbstgewissheit, abgeschottetes Denken in der eigenen Blase, der Glaube an ein vorbestimmtes Handeln des Staates – bei Feuilletonisten mag man dies als Reflex auf die zunehmende Komplexität der Welt noch durchgehen lassen. Nicht aber bei denjenigen, die sich um die politische Verantwortung für diese Industrienation bei der letzten Bundestagswahl beworben haben.

Jeder weiß es. Am Ende siegt stets die normative Kraft des Faktischen. Ohne grundlastfähigen Strom aus Kohle- und Gaskraftwerken wird es nicht funktionieren. Doch der Weg zu dieser Erkenntnis dürfte mit erheblichen Verlusten an industrieller Wertschöpfung gepflastert sein. Was wir derzeit erleben, ist eine Operation am offenen Herzen der deutschen Industrie.

Was gerade jetzt als Kompass dienen könnte, ist so viel Sachverstand wie möglich hinzuzuziehen. Offenheit, nicht Selbstgewissheit. Stattdessen aber schränkt das Bundeswirtschaftsministerium die Beteiligung der Fachverbände der Wirtschaft im Parlamentarischen Anhörungsverfahren zuletzt massiv ein. Anhörungsfristen werden in extremer Weise verkürzt. Mit der Folge, dass die Auswirkungen der jüngsten Entwürfe bei den Energie- und Gebäudeeffizienzgesetzen in ihren Wirkungen auf die Zukunft der Unternehmen nicht hinreichend dargelegt werden können. Die nach der Geschäftsordnung der Bundesministerien vorgeschriebene Verbandsanhörung wird dadurch zur Farce. Der Eindruck drängt sich auf, dass ökonomischer Sachverstand als störend empfunden wird.

Nicht von Ideologie, sondern von Pragmatismus und einem ausgeprägten Verständnis für das, was sozialpartnerschaftlich geboten und möglich ist, haben ADK und IG BCE am 28. Februar in Fulda einen Tarif­abschluss für die deutsche Kautschukindustrie vorgelegt. Mit einer Inflationsausgleichsprämie, die über die Jahre 2023 und 2024 verteilt werden kann, mit stufenweisen Sockelbeträgen, die im End­effekt auf eine Erhöhung der Tabellen in einem Korridor von sieben bis acht Prozent hinauslaufen, je nach Verdienststruktur des Unternehmens. Und mit einer Laufzeit von 24 Monaten bis zum 31. Mai 2025, mit dem Ziel, unseren Betrieben eine sichere Kalkulationsgrundlage für einen langen Zeitraum zu geben. Ein Tarifabschluss, den wir sachlich, unaufgeregt und professionell in zwei Runden zustande bekommen haben und dies vor dem Hintergrund eines ansonsten hysterisch aufgeladenen tarifpolitischen Umfelds im öffentlichen Dienst.

Unser ADK-Report, den Sie in den Händen halten, ist einmal mehr Spiegelbild einer hoch innovativen Branche, die in ihrer Vielschichtigkeit bemerkenswert ist. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!

Mit den besten Grüßen, Ihr

Dr. Volker Schmidt
Hauptgeschäftsführer ADK


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